01-12-2019, 11:15 AM
NZZ 11.1.2019, Zuschriften
Erfreulich ist, dass der Schweizerische Wissenschaftsrat eine Tatsache wissenschaftlich bestätigt (NZZ 29. 12. 18), die für jede aufmerksame Mutter von Schulkindern offensichtlich ist: «die soziale Selektivität» des Schweizer Bildungssystems. Hinsichtlich der Ursachenanalyse wirkt es jedoch befremdend, dass wichtige Themen nicht angeschnitten werden: der sehr hohe Leistungsanspruch, gepaart mit einer regelrechten Bewertungsmanie, die daraus resultierende Defizitorientierung und die «Verweiblichung» des Schulwesens mit negativen Folgen für viele Knaben.
Der hohe Anspruch in allen Fächern der Primarschule erstaunt. Dieser zeigt sich nicht nur im Stoffumfang und in der bisweilen fragwürdigen Stufengerechtigkeit der vermittelten Lerninhalte, sondern auch in einem unfassbar granularen Bewertungssystem. Zur Beurteilung der Lernkontrollen in jedem Schulfach mit Zehntelsnoten kommt ein vierseitiger Beurteilungsbogen für die sogenannten «Kompetenzen». Jede Regung eines Kindes in der Schule – so entsteht der Eindruck – wird bewertet, beurteilt und manchmal gar verurteilt, wobei die Aufmerksamkeit unweigerlich auf den Defiziten liegt. Diese ausgeprägte Defizitorientierung scheint mir die Freude am Lernen zu hemmen und die Lust, Neues zu entdecken, im Keim zu ersticken; so dass die Motivation für das Lernen letztlich auf der Strecke bleibt.
Unabhängig von ihrer Herkunft leiden aber auch viele Knaben, weil das System als Idealtypus des Schülers eher eine Schülerin – also ein angepasstes, fleissiges, pflichtbewusstes und zuverlässiges Mädchen – im Fokus hat. Dieser wird durch den nahezu ausschliesslich weiblichen Lehrkörper auf der Primarstufe noch verstärkt. Die wilderen Jungen mit wenig Sitzleder und Flausen im Kopf tragen derweil zur Auslastung der mannigfaltigen spezialpädagogischen Einrichtungen bei.
Und was die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen dieses Schulsystems anbelangt, so ist neben dem erwähnten Mangel an akademischem Humankapital noch ein weiterer Aspekt zu erwähnen: die entgangene Lohnarbeit, meist bei den Müttern, weil diese ihre Sprösslinge in der Schule tatkräftig unterstützen (müssen?).
Sandra Hedinger, Baar
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NZZ 16.1.2019, Zuschriften
Ein Kommentar zum ausgezeichneten Leserbrief von Sandra Hedinger (NZZ 11. 1. 19) in Baar drängt sich geradezu auf. Sie verstand es meisterhaft, nach den da und dort erschienenen theoretischen Betrachtungen zu den Verlautbarungen des schweizerischen Wissenschaftsrats nun in die Praxis zu leuchten. Man erschrickt bei verschiedenen Punkten. Die Bewertungsmanie hat offenbar jegliche vernünftige Grenze überschritten und dürfte wohl oft nur noch mit dem Würfel machbar sein. Ferner ist es für viele «Bubeneltern» tröstlich, Unterstützung für die eigenen Beobachtungen zu erhalten. Es stimmt, dass in unserem Schulsystem die Knaben in einem ungünstigeren Umfeld zurechtkommen müssen, und wenn sie darin scheitern, freut sich eine umfangreiche Nachhilfeorganisation auf Kunden. Zentral ist aber meines Erachtens im Brief die klare Aussage, dass wohl manche Eltern gezwungen sind, den Kindern zu Hause zu helfen, soll sich der schulische Erfolg bei ihrem Nachwuchs gedeihlich entwickeln. Wenig Phantasie braucht es für die nächste Folgerung: Wohl den Kindern, deren Eltern diese Unterstützung zu geben vermögen; sind jedoch die Voraussetzungen dazu aus zeitlichen oder intellektuellen Gründen schlecht, dann hat man halt Pech, und auch allfällige schulische Zusatzangebote vermögen den Ausgleich schwerlich zu schaffen. Schliesslich sei auch noch einer der Übeltäter der Ursachen mit Namen genannt: Es ist der Lehrplan 21 mit seinen umstrittenen Methoden wie beispielsweise dem «selbstorganisierten Lernen», welches viele Kinder heillos überfordert. Die Eltern sollten sich öffentlich wehren und nicht nur im stillen Kämmerlein zähneknirschend ihre unentgeltliche Lehrtätigkeit ausüben.
Hans-Peter Köhli, Zürich
Erfreulich ist, dass der Schweizerische Wissenschaftsrat eine Tatsache wissenschaftlich bestätigt (NZZ 29. 12. 18), die für jede aufmerksame Mutter von Schulkindern offensichtlich ist: «die soziale Selektivität» des Schweizer Bildungssystems. Hinsichtlich der Ursachenanalyse wirkt es jedoch befremdend, dass wichtige Themen nicht angeschnitten werden: der sehr hohe Leistungsanspruch, gepaart mit einer regelrechten Bewertungsmanie, die daraus resultierende Defizitorientierung und die «Verweiblichung» des Schulwesens mit negativen Folgen für viele Knaben.
Der hohe Anspruch in allen Fächern der Primarschule erstaunt. Dieser zeigt sich nicht nur im Stoffumfang und in der bisweilen fragwürdigen Stufengerechtigkeit der vermittelten Lerninhalte, sondern auch in einem unfassbar granularen Bewertungssystem. Zur Beurteilung der Lernkontrollen in jedem Schulfach mit Zehntelsnoten kommt ein vierseitiger Beurteilungsbogen für die sogenannten «Kompetenzen». Jede Regung eines Kindes in der Schule – so entsteht der Eindruck – wird bewertet, beurteilt und manchmal gar verurteilt, wobei die Aufmerksamkeit unweigerlich auf den Defiziten liegt. Diese ausgeprägte Defizitorientierung scheint mir die Freude am Lernen zu hemmen und die Lust, Neues zu entdecken, im Keim zu ersticken; so dass die Motivation für das Lernen letztlich auf der Strecke bleibt.
Unabhängig von ihrer Herkunft leiden aber auch viele Knaben, weil das System als Idealtypus des Schülers eher eine Schülerin – also ein angepasstes, fleissiges, pflichtbewusstes und zuverlässiges Mädchen – im Fokus hat. Dieser wird durch den nahezu ausschliesslich weiblichen Lehrkörper auf der Primarstufe noch verstärkt. Die wilderen Jungen mit wenig Sitzleder und Flausen im Kopf tragen derweil zur Auslastung der mannigfaltigen spezialpädagogischen Einrichtungen bei.
Und was die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen dieses Schulsystems anbelangt, so ist neben dem erwähnten Mangel an akademischem Humankapital noch ein weiterer Aspekt zu erwähnen: die entgangene Lohnarbeit, meist bei den Müttern, weil diese ihre Sprösslinge in der Schule tatkräftig unterstützen (müssen?).
Sandra Hedinger, Baar
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NZZ 16.1.2019, Zuschriften
Ein Kommentar zum ausgezeichneten Leserbrief von Sandra Hedinger (NZZ 11. 1. 19) in Baar drängt sich geradezu auf. Sie verstand es meisterhaft, nach den da und dort erschienenen theoretischen Betrachtungen zu den Verlautbarungen des schweizerischen Wissenschaftsrats nun in die Praxis zu leuchten. Man erschrickt bei verschiedenen Punkten. Die Bewertungsmanie hat offenbar jegliche vernünftige Grenze überschritten und dürfte wohl oft nur noch mit dem Würfel machbar sein. Ferner ist es für viele «Bubeneltern» tröstlich, Unterstützung für die eigenen Beobachtungen zu erhalten. Es stimmt, dass in unserem Schulsystem die Knaben in einem ungünstigeren Umfeld zurechtkommen müssen, und wenn sie darin scheitern, freut sich eine umfangreiche Nachhilfeorganisation auf Kunden. Zentral ist aber meines Erachtens im Brief die klare Aussage, dass wohl manche Eltern gezwungen sind, den Kindern zu Hause zu helfen, soll sich der schulische Erfolg bei ihrem Nachwuchs gedeihlich entwickeln. Wenig Phantasie braucht es für die nächste Folgerung: Wohl den Kindern, deren Eltern diese Unterstützung zu geben vermögen; sind jedoch die Voraussetzungen dazu aus zeitlichen oder intellektuellen Gründen schlecht, dann hat man halt Pech, und auch allfällige schulische Zusatzangebote vermögen den Ausgleich schwerlich zu schaffen. Schliesslich sei auch noch einer der Übeltäter der Ursachen mit Namen genannt: Es ist der Lehrplan 21 mit seinen umstrittenen Methoden wie beispielsweise dem «selbstorganisierten Lernen», welches viele Kinder heillos überfordert. Die Eltern sollten sich öffentlich wehren und nicht nur im stillen Kämmerlein zähneknirschend ihre unentgeltliche Lehrtätigkeit ausüben.
Hans-Peter Köhli, Zürich